Sind die Italiener noch katholisch?



Auch im Land der Päpste bleiben bei der Sonntagsmesse immer mehr Bänke leer. So dramatisch wie in Deutschland ist die Situation in Italien zwar noch nicht, aber die Tendenz steigend. An der Kirchensteuer kann es jedenfalls nicht liegen, dass viele auf diese Weise eine Art inneren Austritt vollziehen – die gibt’s in Italien nämlich gar nicht. Wie finanziert sich die Kirche im vermeintlich katholischsten Land Europas? Wäre das italienische Modell auch für Deutschland tauglich? Und wie katholisch sind die Italiener eigentlich noch? Dieser Frage wollen wir in diesem Report nachgehen.

 

Von Michael Feth und Nino Galetti

 

Rom - „Dass in der reichsten Ortskirche der Welt die Kirchen am leersten sind, das sollte Euch doch zu denken geben.“ Diesen Satz in der einen oder anderen Version hat wohl schon mal jeder Deutsche gehört, der irgendwie mit dem Vatikan zu tun hat. Verwiesen wird in den Büros der römischen Kurie dabei gern auf den rasanten Glaubensschwund und die galoppierenden Austrittszahlen, den alle Debatten des Synodalen Wegs offenbar nicht aufhalten könnten. Man kennt auch in Rom die deutschen Zahlen genau: Dass etwa vor einem Jahr die Zahl der Mitglieder der beiden Großkirchen erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik unter die magische 50 Prozent-Marke gefallen ist. Dass rund drei Viertel der Menschen in Deutschland laut repräsentativen Umfragen die Kirchensteuer nicht mehr zeitgemäß finden. Dass allein 2022 mehr als eine halbe Million Menschen aus der katholischen und rund 380.000 aus der evangelischen Kirche austraten; ein trauriger Rekord. Und über 40 Prozent der Mitglieder beider christlicher Kirchen geben an, dass die Kirchensteuer auch sie mittelfristig zum Austritt bewegen könnte. (Die Zahlen stammen aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov vom April 2023).


Wie sieht es dagegen südlich der Alpen aus? Um es vorwegzunehmen: Auch in Italien werden die Kirchen leerer. Trotz der ungebrochenen Popularität von Papst Franziskus wurde auf dem Stiefel im vergangenen Jahr mit 20 Prozent der Gläubigen, die mindestens einmal pro Woche zur Messe gehen, ein Rekordtief erreicht. Immerhin 50 Prozent der Italiener besuchen gelegentlich oder an kirchlichen Festtagen den Gottesdienst. 30 Prozent hingegen haben im letzten Jahr niemals einen Fuß in die Kirche gesetzt haben, von bestimmten Ereignissen wie Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen abgesehen. Die Zahlen stammen von der nationalen Statistik-Behörde ISTAT. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt das noch immer über dem Durchschnitt. Denn der teils dramatische Rückgang der Gottesdienstbesucher, der Inanspruchnahme der Sakramente und der Berufungszahlen spiegeln einen Trend wider, der sich heute in ganz Europa und Nordamerika etabliert hat; anders sieht es übrigens in Afrika, Asien und Lateinamerika, wie da vatikanische Annuarium Statisticum Ecclesiae verzeichnet. Die Tendenz hat sich in den Lockdowns der Pandemie-Jahre beschleunigt und nicht wieder umgedreht. Covid wirkte somit auch in Italien wie ein „Brandbeschleuniger“ für den Niedergang.


Die Daten des ISTAT zeigen weiter, dass sich in den letzten 20 Jahren, von 2001 bis 2022, die Zahl der regulär praktizierenden Katholiken fast halbiert hat von 36 Prozent auf 19 Prozent), während sich die Zahl der "Nie-Praktizierenden" sogar verdoppelt hat (von 16 auf 31 Prozent). Am stärksten ist der Einbruch erwartungsgemäß bei den Jugendlichen. Geographisch gesehen ist die Zahl der regelmäßigen Messebesuche im Norden niedriger als im Süden des Landes. Trotz vornaschreitender Säkularisierung lasst sich auf dem Stiefel jedoch beobachten: Die drei wichtigsten sakramentalen Lebensstationen wie Taufe, Trauung oder Beerdigung, werden von einem Großteil der Italiener nach wie vor kirchlich begangen.  „Austrittszahlen“, wie sie regelmäßig in Deutschland veröffentlicht werden, gibt es in Italien übrigens nicht. Der Grund: Abseits der Taufregister gibt es keine offizielle standesamtliche oder sonst geartete staatliche Erfassung der Religionszugehörigkeit. Nach vatikanischer Sichtweise ist man ohnehin als Christ durch das Sakrament der Taufe lebenslang mit Christus und somit der Kirche verbunden - nicht durch eine Art „Vereinsmitgliedschaft“.


Es zählt die Taufe, nicht die Mitgliedschaft


Diese Fakten sollte man im Hinterkopf haben, wenn wir über das italienische Modell der „Kirchensteuer“ sprechen. Wobei allein schon dieser Begriff falsch ist: Es gibt in Italien nämlich gar keine „Kirchensteuer“ im deutschen Verständnis. Denn anders als in Deutschland wird hierzulande keine zusätzliche Steuer für Kirchenmitglieder erhoben. Stattdessen müssen alle Einkommensteuerpflichtigen - unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit - 0,8 Prozent des anfallenden Steueraufkommens für soziale und kulturelle Zwecke nach Wahl entrichten. Zur Auswahl der „8xmille“ (wie die Formel gern verkürzt wird) in der jährlichen Steuererklärung stehen verschiedene religiöse Institutionen, darunter die katholische Kirche und verschiedene protestantische Kirchen (darunter auch die deutschsprachige lutherische Kirchengemeinde) das orthodoxe Erzbistum Italiens, jüdische, hinduistische und buddhistische Verbände, und schließlich der Staat. Muslimische Organisationen oder Verbände sind mangels struktureller Voraussetzungen nicht erfasst. Der Steuerpflichtige kann sein Kreuzchen gezielt hinter den Träger setzten, den er unterstützen will. Muss er aber nicht. Laut römischen Finanzministeriums lassen fast 60 Prozent der Italienerinnen die Kästchen leer. Ihr Beitrag wird gemäß dem Schlüssel verteilt, den die restlichen rund 40 Prozent mit ihrer Auswahl definieren.


Jene entscheiden sich mit ihrer Wahl meist für die katholische Kirche (70 Prozent). Auf Platz zwei steht der Staat (24 Prozent). Alle drei Jahre wird in einer Kommission aus Mitgliedern von Regierung und Kirche festgelegt, welcher Prozentsatz an der Lohn- bzw. Einkommensteuer durch das Wahlverfahren entweder einer Religionsgemeinschaft oder anderen Zwecken zugewendet werden soll. Während sich das frühere Modell ausschließlich auf die Katholische Kirche beschränkte, finanziert das „Otto per mille“-System heute insgesamt sechzehn Glaubensgemeinschaften. Für die Teilnahme an dem Verteilungssystem entscheidend ist der Abschluss eines Vertrages zwischen Staat und einzelner Kultusgemeinschaft, in der sie ihre gegenseitigen Beziehungen regeln. Dieses Konkordat dient nicht nur der Finanzierung der jeweiligen Gemeinschaft, sondern umfasst das generelle Verhältnis zum Staat; unter anderem also die Ausbildung der Geistlichen, die Errichtung religiöser Gebäude oder die Militärseelsorge. Die Gleichbehandlung aller Steuerzahler bei der Bestimmung der Finanzierungsquoten ist als demokratisches Element zu verstehen, denn damit haben sie unabhängig von der Höhe der geschuldeten Steuer den gleichen Einfluss auf den Verteilungsprozess. Es zählen also die Köpfe, nicht die persönliche Einkommenshöhe. Die Förderung von Religionen und bestimmten Kultuseinrichtungen wird somit nicht nur zu einem Belang der Allgemeinheit, sie gewährleistet auch Transparenz: Ihre Finanzierung wird nicht individueller Philanthropie oder dem Wohlgefallen organisierter Spender überlassen.


Kirche wirbt mit TV-Kampagne


Das gegenwärtige italienische Modell der Finanzierung entstand in den Jahren 1984/1985 mit der Reform des Konkordats zwischen Staat und Katholischer Kirche, das noch aus den Mussolini-Zeiten stammte. Mit dem novellierten Staatsvertrag wurde der Katholizismus als offizielle Staatsreligion abgeschafft. Damit einhergehend die bis dahin geltenden Subvention der Katholischen Kirche durch den Staat, die u.a. eine Reaktion auf die massiven entschädigungslosen Enteignungen kirchlichen Vermögens im Laufe des 19. Jahrhunderts gewesen war. Diese Modernisierung des Konkordats wurde (nota bene!) unter dem Pontifikat von Johannes-Paul II. und der damaligen Regierung unter Führung der Democrazia Cristiana eingeleitet.


Wer in den Wochen vor den Abgabefristen der jährlichen Steuererklärung durch die italienischen Fernsehkanäle zappt, erlebt Erstaunliches: Da flimmert Werbung für die katholische Kirche über den Bildschirm. So auch in diesem Jahr. Zehn flotte Videospots für TV und Internet hat die Bischofskonferenz produzieren lassen. Darüber Beiträge und Testimonials in Zeitungen und Radio sowie und Plakate. "Tue eine Tat der Liebe" lautet der Slogan der Werbekampagne. In den aktuellen Videos zeigt die Kirche Projekte, die aus den Einnahmen der 0,8-Prozent-Abgabe unterstützt werden. Darunter sind ein etwa Wohnheim für alleinerziehende Mütter mit minderjährigen Kindern, eine Lebensmitteltafel und eine Obdachlosenunterkunft. Das Geld soll zudem in die Restaurierung von Kirchen fließen und Hilfsmaßnahmen im Ausland ermöglichen. Laut Bischofskonferenz kostete die neue Kampagne etwa eine Million Euro. Die katholische Kirche in Italien hat über den Beitrag "otto per mille" rund eine Milliarde Euro im Jahr 2021 eingenommen; 216 waren es noch 1,4 Milliarden. Zum Vergleich: In Deutschland beliefen sich die Kirchensteuereinnahmen für die katholische Kirche 2021 auf 6,73 Milliarden Euro.


Kann Italiens Kirche davon leben? Bislang ja, auch wenn sie neuerdings um jeden Cent hart werben muss. Denn ein wichtiger Punkt kommt zu ihren Gunsten hinzu: Kirchliche Immobilien und Liegenschaften sind in Italien traditionell von der Grundsteuer befreit. Und davon gibt es auf dem Stiefel jede Menge. Trotzdem: Jedes Italien-Reisende weiß, wie viele Kirchen und Kapellen von Nord nach Süd verschlossen vor sich hin modern oder dem Verfall preisgegeben sind. Die Kirche tut sich sichtbar schwer, ihre Bauwerke abseits der großen Kunstmetropolen aus eigener Kraft zu erhalten, und der Staat hat häufig kein Geld für Zuschüsse zur fälligen Sanierung. Aufsehen erregte etwa vor ein paar Wochen eine Reprotage aus dem Erzbistum Neapel: Von insgesamt 2000 Kirchen werden nur noch 340 für Gottesdienste genützt. Rund 100 Gotteshäuser sind an kulturelle Institutionen vermietet und dienen als Veranstaltungsort. Der Rest schlummert vor sich hin und vergammelt. Ein Beispiel, das auch für andere Landesteile steht. Immerhin, im kommenden Jahr steht eine neue Runde in den Verhandlungen um die Höhe des Kultur-Steuersatzes an: Dann könnten aus „8xmille“ vielleicht „9xmille“ werden.


(Nino Galetti leitet das Buero der Konrad Adenauer-Stiftung in Rom)

den Originaltext finden Sie unter www.kas.de


 

 



Der Kampf um Berlusconis politisches Erbe


           
  von Michael Feth und  Nino Galetti


Nach dem Tod von Silvio Berlusconi muss sich Forza Italia unter ihrem neuen Parteichef Antonio Tajani neu erfinden. Der hat offenbar eine klare Vorstellung: Der bisherige Politclub soll das historische Erbe der „Democrazia Cristiana“ antreten. Genau 30 Jahre nach ihrem Untergang gibt es in Italien die Sehnsucht nach einer neuen DC. Doch Tajani könnte mit seinen Plänen zu spät kommen: Giorgia Meloni ist mit ihren Fratelli d‘Italia bereits auf dem besten Wege, die Wählerinnen und Wähler des politischen Katholizismus einzusammeln. Sollte sie mit ihrer Strategie, Nationalkonservative und Christdemokraten unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln, Erfolg haben, dürfte dies den schleichenden Tod von Forza Italia zur Folge haben und die Parteienlandschaft Italiens nachhaltig verändern.

 


 Rom - Es war kurz vor dem Sturz von Benito Mussolini 1943: Italien stand nach über 20 Jahren Faschismus und drei Jahren Krieg am Rande des Abgrunds. Und doch gab es im Verborgenen bereits einen Diskurs, wie das Land nach Ende der Diktatur aussehen, und wie eine demokratische Zukunft nach dem Krieg gesellschaftspolitisch gestaltet werden könnte. Am 21. Juli vor achtzig Jahren verabschiedete eine Gruppe katholischer Politiker im Kloster von Camaldoli östlich von Florenz den "Code von Camaldoli": einen Text mit ethischen Leitlinien für den politischen Neuanfang. Diese Ideen wurden fortan zur Grundlage einer politischen Bewegung, die über Jahrzehnte hinweg zur bestimmenden Kraft Italiens werden sollte: die „Democrazia Cristiana“ (DC), die italienischen Christdemokraten. Das Memorandum von Camaldoli wird mithin als eine Art Gründungsakt der Traditionspartei gesehen. Die DC ist zu Beginn der 1990er Jahre zerfallen, doch ihre Werte leben in der italienischen Gesellschaft fort. Wenn es einer Bestätigung bedurft hätte, so lieferte sie niemand anderes als Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella – er definiert sich bis heute stolz als Christdemokrat. Zum Jubiläum begab er sich gemeinsam mit dem Vorsitzenden der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Matteo Zuppi, sowie dem vatikanischen Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, in das abgelegene Kloster, um an die Denkschrift und ihre Unterzeichner zu erinnern.


Politische Wiedergeburt der Democrazia Cristiana?

 

Die öffentliche Debatte über eine politische Wiedergeburt der alten Democrazia Cristiana hat nicht zuletzt seit dem Tod von Silvio Berlusconi am 12. Juni 2023 weiter an Fahrt aufgenommen. Denn seine bürgerlich-konservative Partei „Forza Italia“ ist ohne ihren charismatischen Gründer und Übervater zum politischen Waisenkind geworden. Das Führungsvakuum konnte zwar mit der Wahl Antonio Tajanis zum Parteichef relativ rasch überwunden werden; der nennt sich übrigens nicht „Presidente“, wie sein Vorgänger, sondern nur „Segretario“; ein Begriff, den so auch die meisten anderen Parteien Italiens für den Parteivorsitz verwenden. Der heutige Außenminister und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments ist einer der meistgeschätzten italienischen Politiker im Ausland. Jedoch klafft zwischen seiner internationalen Anerkennung und der heimischen Wahrnehmung eine erhebliche Lücke: In Italien gilt er als Politiker, der sein ganzes Leben im Schatten seines Förderers Berlusconi verbracht und kaum eigenes politisches Profil entwickelt hat. Als „Mann ohne Eigenschaften“ beschrieb ihn eine Tageszeitung. Sorgte Berlusconi mit umstrittenen Bemerkungen (etwa über dessen Männerfreundschaft mit Putin) für heftige Empörung, ging Tajani bis an die Grenzen der Selbstverleugnung, um die Aussagen seines Parteichefs zurechtzubiegen, abzuschwächen und den Schaden zu begrenzen. Zudem hängt ihm das Etikett des Langweilers an; am Tiber, wo der Glamourfaktor fester Bestandteil des politischen Lebens ist, kein Kompliment. Sein Nachteil ist jedoch zugleich sein Vorteil: Er gilt als grundsolide, verlässlich und Mann der ruhigen Hand. In jedem Fall hat Antonio Tajani eine ziemlich komplizierte, fast unmögliche Mission vor sich. Er selbst macht sich nichts vor. "Es ist nicht einfach, eine politische Bewegung zu führen, die Silvio Berlusconi seit fast dreißig Jahren an der Spitze geprägt hat", bekannte er nach seiner Wahl. Trotzdem ruhen ausgerechnet auf ihm nun viele Hoffnungen.


Dabei muss er gleich mit mehreren ärgerlichen Vermächtnissen Berlusconis aufräumen. Da ist zuerst die notwendige Distanzierung von den dunklen Schatten, welche die vielen Skandale des Cavaliere auch posthum noch auf Forza Italia werfen. Die Gerichtsverfahren und Ermittlungen sind mit dem Tod des Medienmoguls mitnichten beendet; so manche gezielten Leaks aus der Justiz könnten in den kommenden Monaten und Jahren an die Öffentlichkeit gelangen und für Aufregung sorgen. Alte Weggefährten des Cavaliere könnten dabei zur Belastung werden; von diesem Zirkel hochbetagter Männer muss er sich schleunigst trennen.

Außerdem muss Tajani für eine neue, offene Diskussionskultur innerhalb der Partei sorgen, die seit drei Jahrzehnten ausschließlich auf die Kommunikation ihres Idols, nämlich vertikal von oben nach unten, zugeschnitten war. Es ist für das politische Überleben dringend notwendig, Dialogstrukturen zwischen den Amts- und Funktionsträgern der europäischen und nationalen sowie der regionalen und kommunalen Ebene aufzubauen. Auch die einfachen Parteimitglieder müssen stärker beteiligt werden und Gehör finden. Als wäre dies nicht schon Aufgabe genug für einen neuen Parteichef, wartet dahinter die Beantwortung der schwierigsten aller Fragen: Wie will sich Forza Italia künftig politisch positionieren? Wofür steht sie programmatisch? Warum sollte man sie wählen? Zugespitzt: Worin sieht sie ihre politische Existenzberechtigung?

 

Antonio Tajanis Plan: Neuausrichtung der Forza Italia

 

In dieser Fragestellung liegt nach Meinung politische Beobachter in Rom eine erhebliche Chance für die Zukunft der Partei. So scheint es auch Antonio Tajani zu sehen. Am Rande der Feierlichkeiten von Camaldoli zum Jubiläum der DC machte er eine Ankündigung, die aufhorchen ließ: Er wolle Forza Italia nach dem Vorbild der Christdemokraten als Schlüsselpartei des italienischen politischen Systems neu aufbauen. Noch vor kurzem wäre eine solche Ankündigung ein politischer Rohrkrepierer gewesen: Das politische Bewusstsein der „Zweiten Republik“ speiste sich lange Zeit vor allem aus einer anti-christdemokratischen Stimmungslage. Die DC galt als diskreditiert, verschlissen und korrupt, nur hoffnungslose Nostalgiker weinten ihr Tränen nach. Nach den dramatischen Erfahrungen mit rechten, linken und anti-europäischen Populisten an der Macht, die das Land um ein Haar ruiniert hätten, hat sich die Sichtweise inzwischen dramatisch verändert: In Italien werden Wahlen heute wieder in der politischen Mitte entschieden. Tajani hat das erkannt und sich als Kandidat für ein „Remake“ der DC ins Spiel gebracht. „Er mag der politische Anführer von morgen sein, den keiner hat kommen sehen“, schrieb das liberale Blatt „Il Riformista“, das seit ein paar Monaten von Ex-Premier Matteo Renzi herausgegeben wird. Dem sozial-liberalen Renzi selbst wird nachgesagt, mit der post-Berlusconi Forza Italia politisch zu flirten. Schon gibt es von dort Angebote an seine Kleinpartei „Italia Viva“, sich zusammenzuschließen. Die allgemeine politische Konstellation scheint günstig: Alle ernsthaften politischen Versuche, ein gemäßigtes politisches Zentrum quasi als dritte Kraft zwischen den Blöcken links und rechts zu etablieren, scheiterten entweder an persönlichen Zwistigkeiten oder am Dilettantismus der Hauptakteure. So verteilen sich die Christdemokraten in der italienischen Politik heute auf mehrere Parteien. Viele der aktuellen und früheren Politpromis verbindet eine gemeinsame Sozialisierung in den katholischen Jugendbewegungen und Laienverbänden: Das gilt etwa für alle vier Ex-Premiers Mario Draghi, Paolo Gentiloni, Matteo Renzi oder Enrico Letta – aber auch für den amtierenden Verteidigungsminister Guido Crosetti und Europaminister Raffaele Fitto von den Fratelli d‘Italia sowie für Mario Mantovani, Melonis engstem Berater. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Sie alle kann man ungeachtet ihrer gegenwärtigen Parteizugehörigkeiten als christdemokratische Politiker definieren.

Rolle der katholischen Wählerschaft

 

Auch innerhalb der katholischen Bischofskonferenz gibt es neuerdings den Willen, sich wieder stärker in die Tagespolitik einzumischen und Orientierung zu geben. In den vergangenen zehn Jahren hatten sich Klerus und Laienbewegungen Italiens auf Betreiben von Papst Franziskus weitgehend aus dem politischen Tagesgeschäft herausgehalten, von wichtigen ethischen Fragen und dem komplexen Thema Migration einmal abgesehen. Diese Strategie betrachtet man heute im Vatikan mit Blick auf die politischen Wechselbäder der vergangenen Jahre als gescheitert. Zwar sind auch die katholisch gesinnten Wählerinnen und Wähler in Italien kein hermetisch geschlossener Block; und doch fühlen sich viele politisch interessierte Katholiken seit Jahren politisch heimatlos und sehen ihre Belange übergangen: Der sozialdemokratische „Partito Democratico“ gesellschaftspolitisch zu progressiv, der sozial-liberale „Terzo Pol“ zu laizistisch, die bürgerlich-konservative „Forza Italia“ zu korrupt, die rechtskonservative Lega zu populistisch, die linke Fünf-Sterne-Bewegung zu antiklerikal. Da schien vielen Wählern die konservative Ausrichtung der Fratelli d‘Italia durchaus attraktiv. Wie man aus den Wahlanalysen heute weiß, trugen wertkonservativ-orientierte Katholiken erheblich zum Wahlerfolg Giorgia Melonis im Herbst 2022 bei. Entsprechend umgarnt die Premierministerin heute die Kirche, zeigt sich gerne an der Seite von Papst und Kardinälen.


Meloni als wahre Erbin Berlusconis?

 

Für das DC-Urgestein, den ehemaligen Parlamentspräsidenten und Europa-Experten Pier Fernando Cassini, ist es schon jetzt klar: „Giorgia Meloni ist bereits jetzt die Erbin Berlusconis.“ Die geschickte Strategin werde alles dafür tun, mit ihren Fratelli d‘Italia zur neuen, großen bürgerlichen Volkspartei in der Tradition der Christdemokraten zu werden. Erkennbar ist, dass Meloni spätestens im Amt der Premierministerin begonnen hat, ihre Partei vom rechten Rand in Richtung Mitte zu schieben und auf diese Weise auch für bürgerliche Wähler attraktiv zu werden. Begünstigt wird ihre Strategie durch den Niedergang der rechtspopulistischen Lega auf nationaler Ebene: Die Partei von Matteo Salvini ist auf ihre frühere Größe geschrumpft und findet gegenwärtig nur noch bei knapp 10 Prozent der Italiener Zuspruch. Sollte Melonis Plan aufgehen, würde das zum Scheitern von Tajanis Projekt einer neuen, christlich-demokratischen „Forza Italia“ führen und deren schleichenden Tod zur Folge haben. Fest steht: Italiens Parteienlandschaft ist in Bewegung und wird sich mit Blick auf die Europawahlen im Juni 2024 weiter verändern.

Autoren:

 

Michael Feth ist freier Korrespondent in Rom und Italien-Experte.

 

Nino Galetti leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom mit Zuständigkeit für Italien, Malta und den Heiligen Stuhl.


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Benedikt XVI.: "Mit meinem Herzen bin ich stets in Bayern"

Josef Ratzinger sieht sich am Ende seines Weges und sehnt sich nach der Heimat. Über die ist er genau im Bilde. Trotz seiner körperlichen Gebrechlichkeit wirkt er geistig hellwach und mit sich im Reinen. Sein Vertrauter Georg Gänswein kümmert sich aufopferungsvoll um ihn. Ein Blick ins verborgene Leben des Pontifex Emeritus hinter den vatikanischen Mauern.

von Ingo-Michael Feth


Vatikanstadt – Wer den ehemaligen Papst aus Bayern besuchen will, der muß erstmal hoch hinauf. Hinter dem Petersdom steigen die Vatikanischen Gärten terrassenförmig den Hang empor. In Serpentinen windet sich die schmale Straße im Schatten von Palmen und Pinien auf den Hügel. Wer nicht das Glück hat, mit dem Wagen ins Hoheitsgebiet des kleinsten Staates der Welt einfahren zu dürfen, braucht gute Puste. Im oberen Drittel, kurz vor dem höchsten Punkt, biegt ein Hohlweg ab, der an einem schweren Eisentor endet. Dahinter beginnt das kleine Reich, das zum Altersruhesitz des früheren Oberhauptes der Katholischen Weltkirche geworden ist: Das Kloster “Mater Ecclesiae“ – Mutter der Kirche. Ein klassisches Klostergebäude ist es nicht, eher ein kleiner Palazzo im römischen Stil mit einem modernen Ziegelanbau und Kapelle. Davor ein reicher Ziergarten mit Lauben, Brunnen, gepflegten Buchsbaumhecken und Blumenrabatten. Ein Idyll, selbst in der kühleren Jahreszeit. Am Eingang wartet Erzbischof Georg Gänswein, in Doppelfunktion „Präfekt des Päpstlichen Hauses“ von Papst Franziskus sowie treuer Privatsekretär von Benedikt XVI. Auch er ist hier zuhause.

Der Zugang zum „Papa Emeritus“ führt allein über „Don Georg“, wie die beiden im Vatikan genannt werden. Er ist, wann immer es seine offiziellen Termine als Präfekt zulassen, an der Seite seines langjährigen Mentors, der ihm zu einem zweiten Vater geworden ist. Am Tage seiner Wahl zum Nachfolger Petri hat er ihm den Treue-Eid geschworen. „Der gilt selbstverständlich ewig, bis zum letzten Moment“, stellt Gänswein immer wieder klar, wenn über seine persönliche Karriere spekuliert wird. Betritt man das Haus, fällt der Blick im Eingangsbereich auf ein unerwartetes Detail; an der Wand hängt ein reich verziertes Lebkuchenherz vom Münchner Oktoberfest. Besucher hatten es kürzlich mitgebracht. „Eigentlich sollte das irgendwo in die Küche“, erklärt der Erzbischof aus dem Schwarzwald. „Aber unsere Schwestern meinten, es solle für alle sichtbar sein. Denn wo ein Herz die Gäste empfange, müsse man sich geborgen fühlen.“ Mit den Schwestern meint er die italienischen Nonnen, die seit dem Einzug Benedikts in den Apostolischen Palast 2005 den päpstlichen Haushalt führen und ihm auch in den Ruhesitz gefolgt sind. Ausder Küche zieht ein verführerischer Duft nach süßen Mehlspeisen durch die Räume. Fotografieren lassen wollen sich die scheuen Ordensfrauen nicht, sie wirken lieber im Hintergrund.
 
Am Anfang mussten die Schwestern lernen, auch bayerisch zu kochen“, verrät Don Georg. „Der Papa liebt besonders Süßspeisen aus seiner Heimat.“ Aber genauso habe er viel Freude an der italienischen Küche. Schließlich ist Rom für Josef Ratzinger nach fast vier Jahrzehnten zum zweiten Zuhause geworden. Dennoch: Wer sich umschaut, bemerkt jede Menge Erinnerungen an die altbayerische Heimat. Zahlreiche Familienfotos, eine Kopie der Patrona Bavariae, ein Bild vom Geburtshaus in Marktl am Inn, ein Palmbuschen aus dem Chiemgau im Herrgottswinkel und andere Accessoires. Es ist die Welt eines Mannes, der nach Lage der Dinge sein Heimatland nie wiedersehen wird und nur in Gedanken an die früheren Stätten seines Lebens zurückkehren kann.

„Ich bin ein alter Mann am Ende meines Lebens“, antwortet Benedikt XVI. auf die Frage nach seinem Befinden. Seine Worte sind fast nur ein Flüstern, seine Stimme schwach und brüchig. Er sitzt, Kopf und Schultern leicht vorgebeugt, in einem grauen Lehnstuhl. Doch seine Augen sind lebhaft und hellwach. Auch seinen Sinn für Selbstironie hat er nicht verloren: „Früher hatt´ ich ein großes Mundwerk; jetzt funktioniert esnimmer“, haucht er fast entschuldigend und lächelt. Ob er Heimweh empfinde? Es ist Don Georg, der dem gebrechlichen Papst seine Stimme leiht und die Gedanken seines Chefs ausführt: „Er sagt oft: Aber ich bin ja trotzdem in Bayern, im Herzen wandere ich einfach die Heimat ab. Eine Wanderung, die unabhängig ist von seinen physischen Kräften und Einschränkungen.“ Traumreisen quasi.

Die Tage des emeritierten Papstes folgen noch immer einem fest geregelten Ablauf. Der Morgen beginnt mit der Heiligen Messe in der Klosterkapelle, gemeinsam mit der Hausgemeinschaft. Zum Predigen, wie er es noch bis vor geraumer Zeit tat, ist er inzwischen zu schwach. Auch hier steht an prominenter Stelle eine hölzerne Kopie der Muttergottes von der Münchner Mariensäule. Viel Zeit verbringt Benedikt in seinem Büro, dessen Wände ringsum mit überfüllten Bücherregalen verkleidet sind und eher an eine Bibliothek erinnern. Darunter natürlich die gesammelten Werke des Theologen Josef Ratzinger, den sie zu Zeiten seines Pontifikats in der Kurie gerne „Professor Papst“ nannten. „Alle Stationen meines Lebens sind in diesen Büchern enthalten“, erläutert Benedikt. Ob er hier noch täglich arbeite? „Ja schon, das gehört sich.“ Auch wenn er leider nicht mehr in der Lage sei, lange Texte zu schreiben.

Allen Gebrechen zum Trotz ist er mit seinen bald 93 Jahren noch genauso diszipliniert wie in seinem gesamten Priesterleben. Der kleine Spaziergang in den Vatikanischen Gärten mit dem Gebet des Rosenkranzes gehört zum Alltag. Wenn die Besuchergruppen am späten Nachmittag verschwunden sind, lässt sich der Emeritus, in Begleitung seines Vertrauten, mit einem kleinen Golfwagen zur Lourdes-Grotte bringen. Von hier aus genießt man einen Panoramablick auf die Kuppel, die sich über dem Grab Petri wölbt, das Häusermeer der Ewigen Stadt und die Sabiner Berge. Benedikt versinkt ins Gebet: Für seinen Nachfolger Franziskus, für die Kirche, für die Welt mit all ihren Krisenherden, Kriegen und Konflikten. Noch immer ist der Emeritus bestens informiert: Über Bayern, über Deutschland und die große Weltpolitik. Denn am Abend hat er ein festes Ritual vor dem Fernseher. Zuerst sieht er die „Rundschau“ im Bayerischen Fernsehen. Dann folgt gewöhnlich die „heute“-Sendung im ZDF. Später das „Telegiornale“, die Hauptnachrichtensendung im italienischen Kanal RAI 1.

Größere Gruppen werden nicht mehr zum greisen Papst vorgelassen. Zu viele Personen irritieren ihn, da er schlecht hört. Gäste empfängt er daher am liebsten einzeln; besonders gern alte Freunde aus Deutschland. Dann informiert er sich ganz genau, ist neugierig, lässt sich mitgebrachte Fotos zeigen und aus der Heimat berichten. Sein Erinnerungsvermögen sei noch immer enorm, schwärmt Gänswein. Und tatsächlich: Traunstein, der Chiemsee, die Fraueninsel, Freising – die Erwähnung seiner Lieblingsorte bringen Benedikts Augen zum Leuchten. Bis zu seinem Tod kam Bruder Georg aus Regensburg regelmäßig zu Besuch; er hatte sein eigenes Zimmer im komplett barrierefreien Papstkloster. Die beiden telefonierten täglich. Das fehlt ihm schmerzhaft.
 
Josef Ratzinger – Benedikt XVI.: Seminarist, Kaplan, Theologieprofessor in Bonn, Tübingen und Regensburg, Konzilsberater beim Zweiten Vatikanum; Erzbischof von München und Freising, Kardinal, Oberster Glaubenswächter, Bestsellerautor, Vertrauter und Wunschnachfolger vom heiligen Jahrhundertpapst Johannes-Paul II.; erster deutscher Pontifex nach einem halben Jahrtausend, erster bayerischer Papst in 2000 Jahren Kirchengeschichte, zweiter Nachfolger Petri, der zu Lebzeiten zurücktrat. Rund 75 Jahre hat er sich im Dienst an der Kirche aufgezehrt. Eine historische Persönlichkeit ist er schon jetzt. Ob er seinen spektakulären Rücktritt je bereut habe? Die Antwort gibt Erzbischof Gänswein, der jene Tage im Februar 2013, welche die Kirche erschütterten, an seiner Seite durchlebt hat: „Nein. Der Rücktritt war eine lange, gründlich durchbetete und durchlittene Entscheidung, die er nicht bereut hat. Der Papa ist mit sich völlig im Reinen.“ Das Licht der Abenddämmerung taucht die Ewige Stadt in Dunkelrosa. Benedikt XVI. wirkt jetzt ermüdet. Eine Botschaft an die alte Heimat hat er noch: „Ich bin im Herzen stets mit Bayern verbunden und empfehle unser Land am Abend immer dem Herrn.“


Rechtlicher Hinweis: Der vorliegende Text unterliegt dem gesetzlichen Schutz des geistigen Eigentums. Jeder Abdruck, Vervielfältigung oder sonstige Weiterverbreitung  bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Autors. (co) Ingo-Michael Feth 2020